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Meine 12 Erzählungen (1981 - 2005) sind bisher nicht in Druckform erschienen.
Hier zwei Beispiele.


Die Tanzmaus und die Eule

1996 / Illustrationen von Marta Kosthorst



Es war einmal eine Maus, die schrecklich gern tanzte. Und immer, wenn der Wind über das Gras strich und die Glockenblumen bimmelten, tanzte sie mit Hingabe die zauberhaftesten Pirouetten, Wiegeschritte, Gebärden und Figuren. Manchmal schauten ihr andere Tiere dabei zu – wie etwa der Frosch, der gerade auf dem Weg zu einem Morgenbad war, oder ein Grashüpfer, der die kleine Kapelle mit seinem Zirpen bereicherte – manchmal auch nicht. Sie beachtete das gar nicht, denn sie war einfach glücklich beim Tanzen, egal, ob ihr jemand dabei zuschaute.


Eines Tages kam eine alte Eule geflogen und ließ sich auf der Wiese nieder. Eine kleine Tierschar versammelte sich ehrfürchtig um sie – von der Ameise bis zum Braunbären – und lauschte ihren Worten. Sie predigte den Tieren vom ewigen Himmelreich und dass alles auf Erden flüchtig und vergänglich sei wie der Tanz eines Herbstblattes im Winde, das doch bald zu Staub zerfällt.

Vielmehr solle man doch zu den Sternen emporblicken. Sie haben ihre eigene Bahn, unbeeinflusst von den Winden dieser Welt, und sind ewig.


Das Wort „Tanz“ traf die kleine Maus wie ein Pfeil ins Herz.

Die Worte der Eule hatten eine große Sehnsucht in ihr erweckt. Und wie sie es sich so bedachte, dass die alte, ernste Eule doch dem Himmelreich sicher sehr viel näher war als sie kleine leichtfertige Maus, da wollte sie genauso werden wie die Eule. Fortan schritt sie ernst daher und tanzte nicht mehr, jedenfalls meistens. Abends war sie dann doch manchmal traurig, dass sie wieder einen Tag ohne Tanzen verbracht hatte. Aber sie meinte, dieses Opfer für das Himmelreich bringen zu müssen. Wenn sie dann anderntags doch wieder etwas tanzte – natürlich ohne wieder ganz zu dem früheren Schwung zu finden – dann wurde sie abends von Gewissensbissen geplagt und dachte daran, dass sie doch nicht einfach wie ein Herbstblatt zu Staub zerfallen wollte, sondern wie ein Stern wollte sie einmal am Himmel stehen! Und die Sterne tanzten doch schließlich auch nicht, oder?

Außerdem erinnerte sie sich auch noch, dass die Eule gesagt hatte, wer das Himmelreich erlangen wolle, der dürfe nicht an seine eigenen Bedürfnisse denken, sondern der müsse für die Gemeinschaft da sein. Also kümmerte sich die kleine Maus um Andere, passte auf die Jungen der Eichhörnchen auf, wenn die Eltern nicht daheim waren, oder brachte verletzten Tieren was zu fressen. Das alles machte ihr viel Freude. Es konnte zwar nicht das Tanzen ersetzen, aber sie sagte sich, dass  ihre Dienste für den Nächsten ja schließlich wichtiger wären.

Sie wurde manchmal etwas missmutig und gereizt, aber wenn man soviel arbeitete wie sie, dann war das ja schließlich kein Wunder.




Einmal übernahm sie den Putzdienst für den Versammlungsplatz, wo einmal im Monat der Rat der Tiere abgehalten wurde.  Bisher war sie ja immer noch zu jung gewesen, um bei diesem Rat dabei zu sein. Diesmal wohnte sie ihm bei, um nachher den Platz aufzuräumen und ordentlich zu fegen, nachdem alle Tiere nachhause gegangen wären.

Bei diesem Rat brachten viele Tiere ihre Probleme vor: Alleinerziehende, deren Gatten von einer Gewehrkugel hingestreckt worden waren und die nun nicht mehr wussten, wie sie ihre Kinder satt kriegen sollten; Füchse, die Revierstreitigkeiten hatten; Spechte, die sich beschwerten, dass die Biber zuviel Baumaterial für ihre Dämme beanspruchten usw. usw.. Gemeinsam wurde versucht, für jedes Problem eine Lösung zu finden. Und da dies doch an diesem Abend mal zufriedenstellend gelungen war, war da einfach das Bedürfnis, noch ein wenig gesellig zusammen zu bleiben und zu feiern. Da erinnerte sich der Frosch, dass die kleine Maus doch so wunderschön tanzte, und bat sie, doch für sie an diesem Abend mal etwas vorzutanzen. Nein, nein, sagte sie. Aber alle anderen Tiere baten auch, und da dachte sie daran, dass sie doch für die Gemeinschaft da sein wollte, und willigte schließlich etwas schüchtern ein.

Der Bär machte den Brummbass, die Enten den Background-Chor, die Grillen zirpten die Begleitharmonien, und die Amseln, Lerchen und Spatzen wechselten sich mit der Melodiestimme ab, während zwei Spechte für die Percussion sorgten und der Frosch gelegentlich mit humoristischen Einlagen die Pausen ausfüllte.

Die Musik war so mitreißend, dass die Schüchternheit der kleinen Maus verflog und sie von ganz allein die Mitte des Platzes aufsuchte, um Platz beim Tanzen zu haben. Sie wurde richtig warm beim Tanzen, und die anderen Tiere waren begeistert.


Nach dem ersten Stück wollte sie sich aber zurückziehen und erinnerte daran, dass sie ja auch noch den Platz putzen müsse. Die anderen Tiere aber entschlossen sich ganz schnell, dass sie alle gemeinsam am nächsten Morgen aufräumen würden, und baten die Maus, noch weiter zu tanzen. Sie tanzte noch ein zweites Stück und ein drittes. So frei und so glücklich wie an diesem Abend hatte sie nicht mehr getanzt, seitdem die Eule ihre Predigt gehalten hatte…

Am nächsten Morgen verschlief die Maus, sie war ja so lange Abende nicht gewöhnt. Als sie zum Versammlungsplatz gelaufen war, um noch mit den anderen aufzuräumen, da hatten die Tiere schon alles erledigt, und es gab nichts mehr zu tun. Sie war allein auf dem leeren Platz.




Ihre Gefühle waren verwirrt. Es stieg in ihr eine Verbitterung gegenüber der alten Eule empor. Zum einen sollte sie nicht mehr tanzen, und zum anderen sollte sie für die Gemeinschaft da sein! Aber die Gemeinschaft  wünschte sich von ihr nichts sehnlicher, als dass sie tanzte! Was sollte sie denn nun eigentlich tun? Aus dieser Wut heraus entschloss sie sich, die Eule aufzusuchen, um sie selber zu befragen.

Sie wusste, dass die Eule in einer Steilwand in dem nahe gelegenen Gebirge ihr Nest hatte, und machte sich gleich auf den Weg. Als sie in den dem Gebirge vorgelagerten Wald hinein-wanderte, begegnete ihr ein Eichhörnchen. Das konnte sie nach dem Weg fragen. Das Eichhörnchen, das gerade einen Baum emporhuschen wollte, kehrte um, als es von der Maus angerufen wurde und stand ihr Rede und Antwort. Die Maus musste all ihren Mut zusammennehmen, denn sie wusste, dass sie etwas Ungewöhnliches wollte. Aber ihre Wut und Verzweiflung ließen ihr keine Ruhe. Also fragte sie etwas schüchtern:

„Ka - ka - kannst du mir vielleicht sagen, wie ich zur Eule finde?“

„Zur Eule? Was willst du denn bei ihr? Weißt du denn nicht, dass sie der Prophet des Himmelreiches ist und nur wenig Zeit hat?“

„Ja, genau deshalb muss ich ja zu ihr, ich muss sie etwas fragen.“

„Aber du kannst doch auch vielleicht mit deiner Mutter darüber sprechen oder mit  deinen Freunden oder mit dem Rat der Tiere in deinem Revier. Oder willst du mir nicht sagen, was dich beschäftigt?“

„Nein, ich muss die Eule selber fragen!“

„Also gut, gehe diesen Weg entlang, bis du zu einem Bach gelangst. Dann gehst du rechts entlang, bachaufwärts, bis zu dem umgestürzten Baum, der über dem Bach liegt. Dort gelangst du hinüber. Ab da frage dann wieder weiter.“ Die Maus dankte und machte sich auf den Weg.

Sie begegnete noch einem Wiesel, einem Fuchs und einem Adler, die sie nach dem Weg fragte. Alle Tiere waren sehr erstaunt, als sie erfuhren, dass die kleine Maus zur Eule wollte, und meinten bereitwillig, dass die Maus doch auch bei ihnen ihr Problem ausschütten könne. Doch als sie die Entschlossenheit der kleinen Maus bemerkten, zur Eule zu gelangen, da wiesen sie ihr bereitwillig den Weg.

Nach vielen Tagen, an einem frühen Nachmittag, als sie schon den ganzen Tag in einer Steilwand herumgeklettert war, da fand sie endlich die Höhle, in der sich hinter einem Winkel das Nest der Eule befand, von den Sonnenstrahlen abgeschirmt. Die Maus trat ein, entdeckte das Nest und fand die Eule darin schlafend vor. Ja, sie hatte ganz vergessen, dass die Eulen tagsüber schlafen und erst abends munter werden!




Erschöpft von der langen Wanderung und von der Kletterei dieses Tages legte sich die Maus zu Füßen der schlafenden Eule nieder und schlief ebenfalls ein.

Sie hatte einen merkwürdigen Traum:

Sie sah die Landschaft, durch die sie gewandert war, von der Höhle der Eule aus im hellen Mondlicht. Der Wind spielte eine Melodie in den Wipfeln der Bäume, und zum ersten Mal hörte die Maus, wie auch die Sterne mit ihrem Gesang mit einstimmten. Es war eine getragene Musik, machtvoll und großartig, die das Herz weit machte und die Sehnsucht erweckte. Von weit her sah die Maus auf einmal die Eule auf sich zufliegen.

Sie kam in einem atemberaubenden Tempo heran, zwinkerte ihr bedächtig mit einem Auge zu und drehte so haarscharf vor der Maus ab, dass sie noch das Rauschen der Flügel hören und den Luftzug spüren konnte.

Nun sah sie, wie die Eule im Mondlicht durch das Tal segelte, im Slalom zwischen den Wipfeln der Tannen hinweg, mit einer Behendigkeit, die die Maus der Eule niemals zugetraut hätte. Das alles geschah in einer vollendeten Harmonie mit der Musik des Windes und der Sterne. Auf einmal begriff die Maus, dass das die Art der Eule zu tanzen war. Sie hätte ihr gerne noch länger zugesehen und dem Gesang der Sterne gelauscht…


Aber da erwachte sie und sah geradewegs in zwei große starre Augen, in denen sich das Mondlicht spiegelte. Die Eule stand nahe dem Höhleneingang und hatte ihren Schlaf bewacht.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte sie mit ihrer sonoren Stimme. „Im Traum hast du gesehen, wie ich tanze. Warum sollst du also nicht tanzen?“

Die Maus hatte schon gehört, dass die Eule die Träume der Tiere kannte und ihre Gedanken erraten konnte. Das gab ihr den Mut, ihre Frage vorzubringen. Allerdings waren ihr Wut und ihre Verbitterung bereits besänftigt, denn sie war noch ganz verzaubert von der Schönheit ihres Traumes, und sie sah bereits ein, dass sie im Irrtum sein musste. Nur konnte sie noch nicht verstehen, warum.

„Ver - ver - verzeiht, weise Eule, ihr kennt meinem Traum und ihr kennt mein Problem. Aber ich verstehe nicht, warum es heißt, man solle nicht tanzen wie die Herbstblätter im Winde, sondern man solle wie die Sterne werden, die ewig sind. Und dann heißt es, man solle der Gemeinschaft dienen. Aber die größte Freude, die ich der Gemeinschaft machen kann, ist es, dass ich für sie tanze. Das scheint mir ein Widerspruch zu sein. Und nun habe ich gesehen, dass ihr auch tanzt  - und wie wunderschön! Wie soll ich das nur verstehen?“

„Ich habe nie gesagt, dass man nicht tanzen soll“, sagte die Eule, „ich wollte lediglich ausdrücken, dass man sein Herz nicht an Vergängliches hängen soll. Natürlich ist jeder Tanz vergänglich wie ein Herbstblatt im Winde. Aber wenn es geschieht, um den Tag zu preisen, den uns der Vater geschenkt hat, und ihm dafür zu danken, dann kann es dich zum Ewigen führen. Es führt dich zur Mitte in dir selbst… Die Sterne tanzen übrigens auch.“

„Die Sterne…?“ hauchte erstaunt die Maus.

„Ja, die Sterne. Wir können es nur nicht sehen, weil sie einen anderen Rhythmus haben als wir Erdenbürger. Aber sie tanzen in einem gigantischen Reigentanz.“

„Das heißt, ich darf also auch tanzen?“ rief die kleine Maus voller Freude aus und warf sich der großen Eule an den Bauch und umarmte sie, soweit ihre kleinen Pfoten reichten. Die Eule legte einen Flügel um sie und sah gütig auf sie herab.


„Ja, alle Tiere haben Freude daran, wenn du tanzt. Und das hättest du von jedem Tier auch erfahren können. Aber nun musstest du zu mir kommen, weil meine Predigt die Quelle des Missverständnisses war. Ich freue mich, dass du gekommen bist, um die Wahrheit herauszufinden.“

Nie hätte die kleine Maus vorher gedacht, dass sie einmal der Eule so nah sein würde und dass die große weise Eule so freundlich zu ihr sein könnte.

Aber warum soll denn Weisheit auch unfreundlich sein? fragte sich die Maus.

„Jetzt fliege ich dich aber nach Hause“, sagte die Eule, und die überraschte Maus musste ihr auf den Rücken klettern und sich in ihren Nacken hineinsetzen. Aufgeregt sah sie über die Federn ins Tal hinab, und nach einem „Festhalten!“ war die Eule auch schon losgeflogen.

Unter ihnen waren die Wipfel der Bäume, über ihnen ein paar silbrige Wolkenfetzen und vor ihnen der große ferne runde Mond.


Lange Zeit flogen sie so dahin. Allmählich wurde die Maus wieder müde. Also schloss sie die Augen, kuschelte sich in die Federn ein und ließ den Wind über sich hinwegstreichen. Dabei schlief sie ein und hatte wieder einen Traum.

Sie träumte, wie sie so auf dem Rücken der Eule flog, da sagte die Eule zu ihr:

„Komm, jetzt fliegen wir zum Mond, denn von dort können wir die Sterne tanzen sehen!“

Sie flogen geradewegs auf den großen runden Mond zu. Sie kamen immer näher, und der Mann im Mond kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf. Anscheinend traute er seinen Augen nicht, dass da diese zwei winzigen Wesen von so weit her ihn besuchen kamen. Die Eule mit der Maus auf dem Rücken flog geradewegs auf dieses riesige leuchtende Gesicht zu.


Schließlich steuerte die Eule den obersten Rand von des Mondmanns Glatze an, und er verdrehte die Augen ganz nach oben.

Ganz oben landeten sie.

Da saßen sie nun nebeneinander auf der Glatze des Mondmannes und konnten wunderbar hinter dem Mond in die Welt der Sterne hinaussehen. Die Eule fragte: “Nun, siehst du die Sterne tanzen?“

Zuerst bemerkte es die Maus nicht, aber allmählich bewegten sich die Sterne immer schneller! Sie liefen in großen Kreisen, und die Kreise bildeten wieder rotierende Kreise! Die Sterne bewegten sich immer schneller, bis ihr Licht schließlich zusammenschmolz zu einem einzigen blendenden Licht…


Vom hellen Licht der schon hochgestiegenen Sonne wachte die Maus mitten in der großen Festwiese auf, ganz nahe bei ihrer Höhle.

Sie begrüßte den Tag mit einem Tanz, einem Tanz zum Dank an den großen Schöpfergeist für die wundervolle Begegnung in der vergangenen Nacht.


 

Die Zauberbilder

1996

 


Die kleinen Glöckchen an der Tür klingelten, die anzeigten, dass jemand in den Laden kam. Um diese Zeit klingelten sie immer sehr stürmisch, denn es war der 14jährige Ronny, der von der Schule kam. Zuhause war um diese Zeit keiner, der ihm ein warmes Mittag gemacht hätte. Das war ihm auch nicht so wichtig, denn Ronny konnte es immer kaum erwarten, in den Laden von Herrn Hollerbrink zu kommen.

Herr Hollerbrink war schon ziemlich alt, wie alles in seinem Laden. Es war nämlich  ein Antik-Geschäft. Und beileibe kein gewöhnliches. Erstens befand es sich nämlich in einer Hafenstadt, und zweitens war Herr Hollerbrink schon seit seiner frühen Jugend selber viele Jahre auf See gewesen.

So befanden sich in diesem Laden die merkwürdigsten und teilweise ungeheuerlichsten Kuriositäten aus aller Welt. Zwischen den alten tiefdunkel gewordenen Möbelstücken stand und hingen afrikanische Negerstatuen, malaysische Schnitzmasken, Buddelschiffe aller Art, präparierte Fische (darunter Leucht- und Kugelfische aus der Tiefsee und ein Elektrofisch, der seine 0pfer mit einem Stromschlag getötet hatte), ein präparierter Walfisch-Penis, eine präparierte Riesenkrake – von der Herr Hollerbrink beteuerte, es wäre ein recht kleines Exemplar, und eine schraubbare Haken-Hand – von der Herr Hollerbrink scherzhaft behauptete, sie habe Käpt‘n Hook gehört.

Zu jedem Gegenstand konnte Herr Hollerbrink eine umfangreiche Geschichte erzählen und tat das für Ronny auch sehr gerne, der ihm mit Vergnügen  zuhörte und viele Fragen stellte, währenddem er manchmal noch ein aufgehobenes Pausenbrot kaute. Der alte vergilbte Globus war oftmals dabei ein unentbehrliches Hilfsmittel, um die Reisen von Herrn Hollerbrink nachzuvollziehen. Diese Erzählungen erregten so sehr die Phantasie und die Gedanken von Ronny, dass er kaum einen Fernseher brauchte. Er fragte sich auch öfter, hätte er anstelle von Herrn Hollerbrink genauso gehandelt? Daraus ergaben sich viele Pläne und Vorsätze für seine eigene Lebensgestaltung.

Ronny half auch schon manchmal im Laden mit, staubte Gegenstände ab, putzte alte Münzen und alten Schmuck oder packte mit an, wenn es galt, schwere Möbelstücke umzustellen.

An diesem Tag hatte Herr Hollerbrink extra mit dem Mittagessen gewartet,um auch Ronny einen Teller Suppe anzubieten. Ronny wurde die„Oberaufsicht“ übertragen und durfte sich hinter den Tresen neben die altmodische Registrierkasse setzen. Herr Hollerbrink setzte sich mitten in den Laden an einen Tisch aus dem 18. Jahrhundert, denn er wollte beim Suppenschlürfen ein wenig aus dem Fenster gucken. Soviel er auch sonst erzählte – beim Essen war Herr Hollerbrink schweigsam und wollte auch nicht angesprochen werden. Alte Leute haben eben so ihre Gewohnheiten, die man achten sollte. Umso bedeutungsvoller war es, dass er nun, mitten zwischen zwei Löffelhappen, unvermittelt Ronny ansprach und sagte:

„Wenn du Lust hast, kannst du mir nach dem Essen gerade mal auf dem Dachboden helfen. Da habe ich einen präparierten Fisch, der drauf und dran ist, seine Schwanzflosse zu verlieren, sie ist schon ein  gutes Stück eingerissen. Wenn die Haut noch nicht zu brüchig ist, kann man ihn vielleicht vorsichtig nähen, damit der Riss nicht noch größer wird. Man kann ihn ja dann mit der Seite vor eine Wand stellen, damit man die Naht nicht sieht.“

„Haben sie denn auf dem Dachboden noch mehr Sachen?“ fragte Ronny, denn er hatte bisher noch gar nicht gewusst, dass zum Laden auch noch ein Dachboden gehörte.

„Ja, aber sicher, das ist doch mein Lager“, antwortete Herr Hollerbrink.

„Weißt du, meine Hände sind schon zu zittrig für solche Reparaturen und außerdem seh’ ich nicht mehr so gut. Deshalb wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dir den Fisch mal anschauen würdest“.

„Natürlich, gerne“, antwortete Ronny, und er meinte es ehrlich. Er half wirklich gerne Herrn Hollerbrink, wo er nur konnte. Denn er spürte, das, was er durch den reichen Erfahrungsschatz von Herrn Hollerbrink alles bekam und was er durch das bloße Zusammensein mit ihm lernen konnte, war einfach unbezahlbar.

Aber außerdem war er natürlich sehr gespannt, was sich denn noch alles für Gegenstände dort oben befanden.

Es war ein altes und kleines Haus. Im ersten Stock war die Wohnung von Herrn Hollerbrink, und darüber war gleich der Dachboden. Als sie über die steile Holztreppe hinaufgelangt waren, wurde für Ronny sehr schnell ersichtlich, dass der Dachboden eigentlich nur teilweise ein Lager für den Verkauf war. Denn dort befanden sich auch die Gegenstände, von denen sich Herr Hollerbrink noch nicht trennen konnte, und die, die Herr Hollerbrink niemals verkaufen würde. Zwischen den vollgestopften Regalen, in denen auch teilweise beschriftete Pappkartons standen, die sicher Märchenhaftes enthielten, war hier auch Herrn Hollerbrinks Werkstatt, ein Tisch mit Schubladenkästen darauf für Werkzeug und Kleinteile. Mehrere Buddelschiffe lagen verstreut umher oder standen im nahegelegenen Regal, die irgendwo unvollständig oder schadhaft waren. Auf der Mitte des Tisches aber lag der präparierte Fisch, dessen Schwanzflosse etwas eingeknickt war; an einer Seite hatte sie einen kleinen Riss. Den sollte Ronny nähen und, wenn das nicht ging, kleben, egal, der Riss sollte später sowieso zur Wand stehen. Außerdem dürfte er sich auch mal an den Buddelschiffen versuchen, wie gesagt, seine Hände seien eben schon zu zittrig, sagte Herr Hollerbrink. Er selber musste ja auch unten im Laden bereitstehen, falls Kunden kamen.

So kam es, dass Ronny ganz alleine im Dachboden zurückblieb. Er machte sich an die Arbeit, doch das war ganz schön knifflig mit dem alten Fisch. Nach einer Weile brauchte er einfach eine Pause und beschloss, sich ein wenig umzusehen.

Es war schon ein wenig unheimlich auf dem Dachboden. Durch die einzige schräge Dachluke kam nur wenig Licht. Es war auch so ein Wetter, wo Ronny den Eindruck hatte, dass die wogenden dunklen Wolken direkt über dem Dach hingen. Es roch etwas verstaubt und modrig, der Wind knarrte um Gebälk. Schließlich peitschten die Böen schwere Regentropfen um das Dach. Ronny erschrak. An einem Regalpfosten hing ein echter Schrumpfkopf, an den Haaren aufgehangen, mit zugenähten Augen. Er ging weiter, ließ seinen Blick auf den Aufschriften an den vielen Kartons und Kisten in den Regalen wandern.

Im hintersten Regal oben links erregte die schlichte Aufschrift „Geheim“ sein besonderes Interesse. Es war nur ein kleiner DIN A 4-Karton. Die Aufschrift war nicht, wie auf den anderen Kartons, in einer eiligen Schreibschrift hingeworfen, sondern in großen klaren Druckbuchstaben warnend aufgetragen.

Ist doch klar, dass nichts interessanter ist als das, was ‚geheim‘ oder ‚verboten‘ ist. Also holte Ronny die kleine Fußleiter und holte den Karton runter. Auf der 0berseite stand auch noch die Aufschrift

„Achtung, gefährlich!“.

Nun, es konnte ja nicht gefährlich sein, sich den Inhalt eines Pappkartons zumindest einmal anzusehen. Also legte er ihn auf den beleuchteten Arbeitstisch, nachdem er seinen Operationsfisch etwas beiseite geschoben hatte.

Natürlich empfand Ronny, dass er besser Herrn Hollerbrink fragen sollte, was es denn mit diesem Karton auf sich hatte. Aber womöglich hätte Herr Hollerbrink den Karton Ronny entzogen und ihn unerreichbar weggeschlossen. Bevor das passierte, wollte er doch unbedingt gerne herausfinden, um was es sich dabei handelte. Mit einem etwas mulmigen Gefühl stand Ronny auf und horchte an der Holztreppe, aber alles war ruhig. Er kehrte zum Arbeitstisch zurück und lüftete den Deckelteil des Kartons. Darunter kam ein vergilbtes festes Pergament zum Vorschein, darauf stand in großen verschnörkelten gotischen Buchstaben:

„Zauberbilder“,

und etwas kleiner darunter:

„Nur für Eingeweihte“.

Dass Ronny damit nicht gemeint war, war ihm schon klar. Es regte sich wieder sein Gewissen, aber er kann nicht auf die Idee, dass er auch in diesem Moment noch zu Herrn Hollerbrink runtergehen und ihn fragen konnte, was es denn damit auf sich hatte. Herr Hollerbrink hätte ja gewiss Verständnis für Ronnies Neugier gehabt, dass er trotz (oder wegen) der warnenden  Hinweise den Karton geöffnet hatte. Dann hätte ihn Herr Hollerbrink gewiss soweit aufgeklärt, wie es gut für Ronny gewesen wäre, ja, wenn Ronny darum gebeten hätte und wenn es gut für ihn sein würde, hätte Herr Hollerbrink ihn gewiss auch richtig eingeweiht, so dass auch er mit den Worten auf dem Pergament angesprochen gewesen wäre.

 

Aber  Ronny kam nicht auf diese Idee. Denn oftmals ist es schwer für junge Menschen zu begreifen, dass die Älteren viel lieber Freunde und Kameraden und Mitentdecker sein wollen und viel lieber ihre Erfahrungen teilen wollen als kontrollieren und untersagen, obwohl das Kontrollieren und Untersagen auch manchmal notwendig ist. Herr Hollerbrink war doch auch einmal ein junger Entdecker gewesen, ganz so wie Ronny an diesem Tag!

Ronny kam also nicht auf die Idee, dass er sich voller Vertrauen an Herrn Hollerbrink wenden konnte. Er legte das Pergament beiseite. Darunter kam ein mit Packpapier umwickeltes und verschnürtes Bündel zum Vorschein. Ronny holte es heraus und öffnete es. Es befanden sich darin lauter penibel detailliert gezeichnete farbige Bildchen im schwarzen Passepartout. „Warum gefährlich?“ fragte sich Ronny. Aber dass es besondere Bilder waren, empfand er sehr deutlich.

Da war z.B. ein Bild von einem Segelschiff, vielleicht aus dem 16. oder 17. Jahrhundert, und es war nicht aus der üblichen Perspektive, im Ganzformat, gezeichnet, sondern es war deutlich eine Szene auf dem  Deck zu sehen. Es war ganz realistisch dargestellt, wie Menschen auf dem Deck umherliefen oder an Seilen zogen, wie Kommandos gegeben wurden und welche Kleidung die Menschen trugen. Man fühlte sich mitten in die Seefahrerzeit versetzt.

0der es war da ein Bild aus einem englischen Sitzungssaal. Und die ehrwürdigen Herren mit den weißen Lockenperücken waren nicht einfach kerzengerade nebeneinander gesetzt, wie die Vögel auf der Stange, wie sonst auf solchen Bildern üblich, sondern man konnte genau erkennen, wer schlief, wer tuschelte, wer auf die Wände schaute, wem die Perücke schief saß usw.. Wieder fühlte man sich mitten in die Szene hineinversetzt.

Ein anderes Bild schockierte durch seine Brutalität. Es zeigte zwei kämpfende Indianerstämme. Der eine, zu Pferde, bunt bemalt, mit Irokesen-Haarschnitt, überfiel ein Tipi-Dorf, während die Bewohner, lange glatte Haare, sich verzweifelt zur Wehr zu setzen versuchten. Die Eindringlinge töteten wahllos Männer, Frauen und Kinder. Man konnte erkennen, wie einer einen nackten Säugling an den Beinen hielt, in der anderen Hand einen Dolch, bereit, ihm den Hals durchzuschneiden. Die Mutter, wenige Schritte entfernt, stürzte auf ihn zu, um ihm

in den Arm zu fallen. An einer anderen Stelle stand ein junger Indianer, etwa in dem Alter von Ronny, der einem der Angreifer gegenüberstand, jeder einen Tomahawk in der Hand. Diese Gestalt zog Ronny ganz eigentümlich an. Er sah, wie dieser junge Indianer trotz seiner Jugend entschlossen war, das Dorf zu verteidigen, während manche zu fliehen versuchten. Aber während er sich auf sein Gegenüber konzentrierte und jeder eine Schwäche des anderen suchte, um sich auf ihn zu stürzen, holte hinter dem jungen Indianer ein Speerwerfer aus, um ihn von hinten zu durchbohren. Das heißt, Ronny sah ganz plötzlich, wie der Irokese mit dem Speer ausholte, er sah die Bewegung, während sein 0hr plötzlich mit dem Kampflärm erfüllt war. Unwillkürlich rief er „Achtung!“. Der junge Indianer riss sich herum. Der Speer traf ihn noch in den rechten 0berarm, während der Angreifer mit dem Tomahawk nun plötzlich auf Ronny zustürzte und nach ein paar Schritten den Tomahawk in seine Richtung schleuderte.

Ronny schrie auf, warf das Bild von sich, duckte sich, schlug die Arme über dem Kopf zusammen, und der Tomahawk schlug hinter Ronny in einen senkrechten Dachbalken ein, alles in einem einzigen Augenblick.

Von dem Schrei und dem dumpfen Einschlag aufgeschreckt, eilte Herr Hollerbrink, so schnell er nur konnte, die Treppen zum Dachboden empor. Oben sah er Ronny am Boden kauern, die Arme überm Kopf zusammengeschlagen. Hinter ihm steckte ein echter Indianer-Tomahawk im Dachbalken.

Vor ihm auf dem Schreibtisch lag die Erklärung für die Situation: das geöffnete Bündel mit den Zauberbildern. Eines der Bilder lag nach unten auf dem Boden. Ronny war noch ganz verstört, blieb in seiner geduckten Haltung und stammelte etwas wirr: „Hilfe! Hilfe! Ist er weg? Lasst unser Dorf in Ruhe!“

Herr Hollerbrink legte seinen Arm um Ronnies Schultern und sagte: „Ich bin‘ s, Herr Hollerbrink“.

Bei der ersten Berührung zuckte Ronny zusammen, aber durch den Klang der Stimme fasste er Vertrauen, blickte empor, und wie er sein Gesicht erblickte, fiel Ronny Herrn Hollerbrink erleichtert in die Arme.

Nach einem Weilchen löste er sich aus der Umarmung, blickte ihm ins Gesicht und fragte:

„Was ist denn nur passiert? Hab ich geträumt?“.

„Nein, du hast nicht geträumt“, sagte Herr Hollerbrink, „sieh, hier steckt ein Tomahawk im Dachbalken. Aber es hätte weit schlimmer kommen können. Du hast doch gelesen, dass es Zauberbilder sind! Warum hast du mich denn nicht geholt?“

„Verzeihen sie, Herr Hollerbrink, ich hab ja nicht geahnt...“

„Und wovon man keine Ahnung hat, davon lässt man besser die Finger. Du warst auf einer Zeitreise.“

„Auf einer Zeitreise?“

Ronny schaute noch einmal zum Tomahawk, der dort im Dachbalken steckte. Dann hielt er einen Moment inne, und mit dem Schreck der Erkenntnis sog er plötzlich die Luft ein und hob die Augenbrauen. Ronny zog seinen rechten Arm aus dem Sweatshirt. Hervor kam auf dem entblößten Oberarm ein großes braunes Muttermal.

„Hier“, rief Ronny, „genau an dieser Stelle wurde der junge Indianer von einem Speer getroffen!“

Sie setzten sich auf die zwei Stühle, die am Arbeitstisch standen, und Ronny erzählte ihm alles. Er schloss mit der Frage:

„Wenn derTomahawk mich getroffen hätte, wäre ich dann tot gewesen?“

„Ja, Ronny“, sagte Herr Hollerbrink, „die Vergangenheit ist zwar vergangen, aber wenn wir uns zu intensiv mit ihr beschäftigen,  kann sie uns immer noch verletzen. Und weißt du auch, wer der junge Indianer gewesen sein könnte, den der Speer verletzt hatte?“

Eine Ahnung stieg in Ronny auf, und er fragte leise: „Ich selbst?“

„Ja, vielleicht warst das du selbst in einem früheren Leben. So eine Begegnung ist sehr selten. Es haben schon viele Zauberer und Alchimisten Experimente mit diesen Zauberbildern angestellt. Sie wollten alles Mögliche herausfinden, wie sich durch Manipulationen in der Vergangenheit die Gegenwart beeinflussen lässt und auch, was passiert, wenn man sich selber in einem früheren Leben begegnet. Viele sind von ihrer Zeitreise nicht zurückgekehrt.“ 

Bei diesen Worten blickte Herr Hollerbrink sehr ernst. Beide schwiegen einen Augenblick, und Ronny begriff schuldbewusst, wie gefährlich das gewesen war, was er da entdeckt hatte. Aber gleichzeitig war in ihm die Entdeckerfreude entbrannt, und er dachte an die anderen Bilder, und was sie ihm wohl noch zu sagen hätten. Schließlich stürmte es aus ihm heraus:

„Herr Hollerbrink, bitte verzeihen sie, dass ich so leichtfertig den Karton geöffnet habe. Aber gilt es nicht einen Weg, wie auch ich es lernen kann, mit den Zauberbildern umzugehen? Ich möchte so gerne noch mehr mit ihnen entdecken!“

„Tja, Ronny, ich muss schon sagen, du bist schon begabt. Normalerweise dauert es viele Wochen mit regelmäßigen Konzentrationsübungen, um in eines der Zauberbilder einzutauchen. Aber so leicht, wie du es jetzt gehabt hast, wird es vermutlich nicht so schnell wieder gehen. Du wirst auch die Konzentration und die rechte Atmung erlernen müssen. Andererseits bergen diese Zauberbilder die Gefahr in sich, dass man sich in ihnen verliert und sich mit Haut und Haar in die jeweilige Zeit versetzt, wie es dir ja passiert ist.

Wenn du mir versprichst, dass wir uns nur zusammen mit den Zauberbildern beschäftigen, dann können wir sie so anwenden, dass sie ein bewegliches Fenster zur Vergangenheit bilden, durch das wir schauen können, ohne selber in diese Zeit einbezogen zu sein. Außerdem musst du mir versprechen, das Wissen, das du dabei erwirbst, nicht zu deinem eigenen Vorteil und zum Schaden deiner Mitmenschen, sondern zum Wohle aller Menschen anzuwenden.“

Ronny versprach alles. Er war ja eigentlich noch viel zu jung, um ihm ein solches Versprechen abzunehmen und solche Einweihungen zuteil werden zu lassen. Aber Herr Hollerbrink war berührt von der Entdeckerglut im Herzen des jungen Abenteurers, die die Glut seiner eigenen Entdeckerjahre wieder entfachte. Und außerdem: Konnte es ein Zufall sein,  dass diesem Jungen spontan so außergewöhnliche Ergebnisse zufielen?

Eine Zeitreise ohne Vorbereitung! Eine Begegnung mit einer früheren Inkarnation! Ein in die Gegenwart transferiertes Tomahawk aus der Indianerzeit! Dieser Junge hatte bereits zuviel erlebt. Es gab kein Zurück mehr. Wenn er dabei nur keinen Schaden nähme!

Von nun an blieb Ronny öfters bis zum Ladenschluss, wobei er im Dachboden defekte Buddelschiffe und anderes reparierte. Aber nach Feierabend wies ihn Herr Hollerbrink ein in die Kunst der Konzentration und der rechten Atmung.

Die beiden vertieften sich in verschiedene Zauberbilder, und es bedurfte wirklich einiger Übung, sie zum Leben zu erwecken. Aber im Beisein von Herrn Hollerbrink waren diese Zauberbilder einfach Fenster zu vergangenen  Zeiten, ohne dass man von ihnen verschlungen wurde oder Gegenstände nach einem geworfen wurden. Indem man die Zauberbilder bewegte, konnte man sich in allen Richtungen an einem Schauplatz umgucken, ohne selber gesehen zu werden.

Es waren Bilder dabei von den Kreuzfahrten, von den großen See-Abenteurern, von den Napoleonischen Kriegen und vieles mehr. Ronny, der bisher in Geschichte eher mäßig gewesen war, begann in Geschichtsbüchern Manches nachzulesen, um mehr zu erfahren. Geschichte war für ihn lebendig geworden, denn er hatte begriffen, dass es immer um Menschen ging, mit ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, ihren Falschheiten und ihrem Heldenmut. Durch die Zauberbilder erfuhr er aber immer mehr, dass die großen Helden der Geschichtsbücher meist von Versagensängsten und Profilierungsdruck geplagte Neurotiker waren, während die Namen derer, die wahre innere Größe zeigten, meistens unbekannt blieben.

Ein Deserteur, der das allgemeine Morden und Foltern verabscheute, endete meistens am Galgen, ohne dass ihm von den Geschichtsschreibern Kränze geflochten wurden. Aber ist er nicht unter dem Einsatz des eigenen Lebens sich selber treu geblieben? War nicht in diesen hässlichen, dunklen Ecken der Geschichte mehr Heldentum als auf den in den Büchern gern gezeigten Schlachtfeldern? Die Zauberbilder zeigten oft ungewöhnliche Perspektiven. Sie zeigten, wie rücksichtslos, brutal und hinterlistig die großen Eroberer vorgingen. Sie zeigten, wie die Geschichte von Grausamkeit geprägt war, weil die Männer immer wieder ihre Stärke durch Gewalt unter Beweis stellen wollten. Doch Ronny erkannte mehr und mehr, dass sich die wahre Stärke  nicht in Gewalt ausdrückte. Seine Sympathie gehörte mehr und mehr denen, die ihre Stärke im Dulden und Tragen ausdrückten, im Treusein zu ihren Verpflichtungen, im Treusein zu sich selbst.

Da war ein leibeigener Bauer im 16. Jahrhundert, der so hohe Abgaben zahlen musste, dass er sich oftmals das Essen für seine Kinder vom eigenen Munde absparen musste. Es liefen ja zu dieser Zeit fast alle Bauern nur in Lumpen herum, aber dieser hatte so wenig Lumpen und so wenig Brennholz zur Verfügung, dass seine Familie im Winter furchtbar frieren musste. Die Knechte seines Herrn schlugen den Bauern, um ihn zu noch mehr Abgaben zu zwingen. Sein Herr lebte währenddessen in einem solchen Luxus, dass er nicht wusste, was er mit seinem Hab und Gut anfangen sollte. Aber er scheffelte immer mehr, einfach, weil es ihm Ansehen verschaffte.

Dieser Bauer nun, hätte man denken können, müsste ein verzweifelter Mensch gewesen sein. Und Sorgen hatte er wirklich genug. Aber er beklagte sich niemals und fluchte auch nicht, sondern ging stets fröhlich seiner Arbeit nach. Er gab auch nicht die Schläge an seine Familie weiter, denn er liebte seine Familie voller Zärtlichkeit und bemühte sich, alle Sorgen von ihr fernzuhalten. Statt also in seiner Familie mit Gewalt zu herrschen und ihr mehr und mehr Sorgen aufzuladen, wie es ihm selber ständig geschah, machte er seiner Familie immer wieder Mut, und es gelang ihm durch Erfindungsreichtum und Bauernschläue immer wieder, für sie eine sättigende Mahlzeit oder ein brauchbares Kleidungsstück zu organisieren.

Dieser arme Bauer, der trotz aller Ungerechtigkeit stets Fröhlichkeit und Zuversicht ausstrahlte, beeindruckte Ronny schließlich mehr als alle Helden der Schlachtfelder, als alle Ritter und Generäle und Western-Sheriffs und Kung-Fu-Fighter, die alle ihre Stärke unter Beweis stellen mussten, indem sie anderen Gewalt antaten.

In seiner Klasse wurde Ronny manchmal als Feigling bezeichnet, denn ihm lag nichts mehr daran, anderen seine Stärke durch Kämpfen zu beweisen. Nun wusste er, dass es oftmals mehr Mut braucht, sich als Feigling bezeichnen zu lassen und sich selber treu zu bleiben.

Dieser Bauer interessierte also Ronny besonders, und es gab auch mehrere Zauberbilder, die sich mit ihm beschäftigten. Der geheimnisvolle Zeichner musste wohl auch ein besonderes Interesse an diesem Mann gehabt haben.

Ein Bild zeigte den Mann, als er schon etwas älter und fast ganz grau war, in einer Runde in seiner ärmlichen Hütte sitzen, am späten Abend, bei kärglicher Beleuchtung. Die Hütte war voll bis in den letzten Winkel, es waren viele Gäste da. In der Mitte der Runde saß eine seiner Töchter, mittlerweile erwachsen. Alle hatten die Augen geschlossen, nacheinander sprach jeder ein Gebet. In der Runde saß auch ein Priester, der Papierrollen aus seinem Mantel zog und daraus vorlas. Dann sprach wieder einer ein Gebet, und plötzlich öffnete die Tochter den Mund und sprach klar und kraftvoll. Von dem Inhalt verstand Ronny fast gar nichts, das altertümliche Deutsch war ihm zu fremd. Aber wie gebannt starrte  er auf das Zauberbild und spürte, dass er etwas Außergewöhnlichem beiwohnen durfte.

Ein weiteres Bild zeigte den Bauern inmitten einer Menschenmenge, mit weit aufgerissenen Augen. Sein sonst so beherrschtes Gesicht, von Mühsal und Entbehrungen zerfurcht, zeigte blankes Entsetzen.

Als das Zauberbild in Bewegung kam, sah Ronny in die Blickrichtung des alten Bauern. Auf der schmalen Gasse, die die johlende Menschenmenge freiließ, kam ein Leiterwagen dahergefahren, von einem 0chsen gezogen. Im Wagen war eine junge Frau angekettet, die Tochter des Bauern. Aus den auf dem Rücken zusammengeketteten Händen floß Blut, die Daumen waren nahezu zerquetscht, der fast nackte Körper zeigte überall Schnittwunden und Brandspuren, die in schwarzen Höhlen liegenden Augen unter dem kurzgeschorenen Haar zeigten das gleiche blanke Entsetzen wie die Augen des Vaters. Die aufgebrachte Menge schrie immer wieder „Hexe! Hexe!“. Der Leiterwagen hielt vor einem kleinen Kohlenfeuer, auf dem ein Knecht eine große Zange zum Glühen brachte. Der Vater stürzte schreiend hervor, um das Schreckliche zu verhindern, aber ein Inquisitionswächter schritt vor und rammte ihm die Hellebarde in den Bauch. Während er am Boden lag und verblutete, hörte Ronny die gellenden Schreie der Tochter. Schnell drehte er das Bild um und warf es von sich.

Mehr wollte Ronny nicht sehen. Er hatte schon viel zu viel gesehen. Nun hatte er genug und hatte kein Interesse mehr daran, sich weiter mit den Zauberbildern zu beschäftigen.

Herr Hollerbrink erklärte Ronny, was geschehen war. Der Bauer war ein frommer Mann gewesen und dessen Tochter ein Mystikerin, die die Stimme des Herrn in ihrem Herzen vernehmen konnte. Deshalb hatte es oftmals heimliche Versammlungen im Hause des Bauern gegeben, wo sich die einfachen Menschen getroffen hatten, um die Worte des Herrn durch den Mund dieser jungen Bauerntochter zu hören. Der Priester war heimlich dazugekommen, denn seine Kirche hatte nichts davon erfahren dürfen, und hatte immer wieder Abschnitte aus dem Neuen Testament mitgebracht, um sie in der Runde zu verlesen. Damals waren ja die Bauern fast alle Analphabeten. Aber der Priester hatte in dieser Runde kein Priester sein wollen, sondern nur ein Bruder unter Geschwistern.

So hatte er auch an jenem Abend die Wort vorgelesen:

„Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn   e i n e r   ist euer Meister, Christus; ihr aber seid alle Brüder.“

Herr Hollerbrink fragte, ob sich denn aus diesen Worten ein christliches Priestertum ableiten lasse?

Durch einenVerräter aus der Nachbarschaft, der gemeint hatte, den Priester auf Irrwegen zu sehen, hatten dessen Vorgesetze von seinen abendlichen Besuchen erfahren und waren aufmerksam geworden auf die mystische Begabung der Bauerntochter. Herr Hollerbrink erklärte, dass ein Christentum ohne Priester die Macht der Kirchen untergraben würde, und dass aus diesem Grund die Kirche einen Hexenprozess gegen sie in Gang gesetzt habe. Sie sei mit jenem 0chsenkarren auf dem Weg zum Scheiterhaufen gewesen. Heute gebe es zwar keine Scheiterhaufen mehr, fügte er hinzu, aber die Kirchen verfolgen immer noch alle anderen Glaubensgemeinschaften, die sie als Sekte bezeichnen.

Ronny fiel ein, dass er in seiner Klasse als Sektenschwein bezeichnet wurde, nur weil seine Eltern zu einer Gemeinschaft gehörten, die keiner Amtskirche angehörte und auch keiner Priester bedurfte. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass in der christlichen Lehre nach ihrer Auffassung nichts von Amtskirchen oder Priestertum enthalten sei.

Er selber verstand wenig davon, aber er beschäftigte sich ja auch kaum damit, denn seine Eltern zwangen ihn ja zu nichts. Er solle dann entscheiden, wenn er erwachsen wäre, hatten sie zu ihm gesagt.

Er wusste nur, dass die, die ihn als Sektenschwein bezeichneten, selber als Säugling zwangsgetauft worden waren und der Gängelung, die sie bei ihm vermuteten, selber viel stärker unterworfen waren als er.

Das berichtete Ronny Herrn Hollerbrink und fragte:

„Warum kann denn nicht einfach jeder an das glauben, was er will?“

„Das ist eine gute Frage“, sagte Herr Hollerbrink, „denn niemand kann beweisen, dass sein Glaube der richtige ist. Deshalb sollte jeder seinen Glauben leben dürfen, sofern er keine anderen Lebewesen damit schadet. Aber leider hat die Kirche heute noch ebensolche Machtansprüche wie im Mittelalter und wie vor ein paar hundert Jahren. Und dass diese Machtansprüche nicht christlich sind, das kann man beweisen.“

Ronny widmete sich nun noch mehr der Reparatur und auch schon der Eigenkonstruktion von Buddelschiffen und half im Laden aus, ohne mehr nach der Beschäftigung mit den Zauberbildern zu suchen. Der Karton wurde in einen abschließbaren Schrank gesteckt, und den Schlüssel erhielt Herr Hollerbrink. Das war Ronnies Idee gewesen, denn schließlich war die Sache ja wirklich zu ernst für neugierige Grünschnäbel. 

Eines Tages, als es an der Tür wieder bimmelte, kam ein Mädchen herein, das war die Susi aus Ronnies Klasse. Ronny fühlte sich zu ihr hingezogen, hatte sich aber bisher nicht getraut, sie anzusprechen. Nur viele Tagträume und ein paar unbeholfene Gedichtversuche hatte er ihr bisher gewidmet.

Nun sagte sie „Hallo!“ und fragte  „Was machst du denn hier?“

Ronny durfte ihr zu so manchem Gegenstand die Geschichte erzählen und erzählte eine Seefahrergeschichte nach der anderen. Er genoss ihre Bewunderung und ihre Verblüffung darüber, was er alles wusste.

Bis ihr ein Gegenstand besonders auffiel und sie fragte:

„Ist das ein echter Indianer-Tomahawk?“   

Ronny zuckte zusammen. Dann fing er sich und sagte:

„Ja, der ist 150 Jahre  alt. Wollen wir ein Eis essen gehen?“

Das Eis-Cafe lag schräg gegenüber von Herrn Hollerbrinks Laden.

Ronny spürte einfach, wenn er ihr Herz gewinnen wollte, so musste er es lernen, in der Gegenwart zu leben. 

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